Die Verwandlung der Verwandlung
(Von Dieter Koller. über das tanztheater treibhaus stück:
„Kafkas traum – eine Verwandlung“)
Das Tanztheater Treibhaus (Regie Elke Pfeiffer) hat zusammen mit dem Duo Pauline (voc) und Aleksi (git) einen der bekanntesten Texte des 20. Jahrhunderts auf die Bühne gebracht: Kafkas „Verwandlung“. Er erschien 1915 mit einem weltberühmten ersten Satz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. Um das Ungeheure und das Ungeziefer wird es gehen in dieser Aufführung, und um Körper und Text im sprachlosen Raum des Tanztheaters, um Kafkas unerbittliche Sprache. Und um die körperlose und sprachlose Musik zwischen Text und Körper.
Das Wort Ungeziefer stammt aus dem althochdeutschen, zebar bezeichnete Opfertiere, daher bedeutete der Begriff zunächst „nicht als Opfer geeignetes Tier“. (Für Übersetzungen in andere Sprachen ein schwieriges Wort.) Minderwertig also, und es ist erschütternd sich klarzumachen, dass der Autor aus einer jüdischen Familie mit diesen Begriff eine Verwandlung beschreibt, die zwanzig Jahre später vom deutschen Faschismus vorangetrieben wurde. Als Ungeziefer galten die Juden, als Schädlinge im deutschen Volkskörper. „Es muss weg.“ heißt es gegen Ende in Kafkas Text und zu Millionen wurde die jüdische Bevölkerung Deutschlands „weggeschafft“, abtransportiert, ermordet. Wäre Kafka nicht mit 41 Jahren an Tuberkulose gestorben, hätte ihn diese „Ausrottung“ auch erreicht; sein Werk war im Nationalsozialismus als „schädliches und unerwünschtes Schriftgut“ verboten.
Die Bühne ist spärlich, mit wenigen Requisiten eingerichtet, das Mobiliar wie aus der Zeit der Entstehung des Texts: ein altes Eisenbett, ein Metallputzeimer auf Rollen, ein alter Bürodrehstuhl mit Holzsitzfläche (Kafka war ein Büromensch als Versicherungsagent). Ein Nachttisch aus Blech, rollbar auch, alles wie aus einem Krankenhaus damals. Aber um Heilung oder Genesung wird es nicht gehen, nicht einmal um Linderung.
Der Text ist als Projektion auf der Bühne immer präsent, weiß auf schwarz, in einer ungewöhnlichen Schriftart, in der das Groteske anklingt. Lange steht der berühmte erste Satz am Anfang, bis sich sich etwas bewegt. Auf dem Eisenbett eine dünne Rosshaarmatratze, darunter zuckt etwas. Sofort wird klar: das ungeheure Ungeziefer. Unsichtbar bleibt es zunächst, nur als Bewegung unter der dicken Decke, sich windend, kriechend, auch unter das Bett – und taucht allmählich, gliedweise auf: keine Maske, keine Schminke, ein menschlicher Körper in alter labberiger Unterwäsche in unmenschlichen Bewegungen, im und durch das Bett sich bewegend, dann mit dem Bett, als sei das Bett ein Teil des Körpers. Ein Ungeheuer, wie eine Chimäre, ein Mischwesen aus Mensch und Tier in den alten Mythen, geheimnisvoll-bedrohlich mit besonderen Kräften: die Sphinx, der Zentaur, der Pegasus. Hier aber ein Mischwesen aus menschlichem Körper und Dingen: es bewegt sich mit dem Bett auf dessen vier Beinen wie ein elender verkrüppelter Zentaur oder gar wie ein Pegasus, Symbol der poetischen Inspiration, ohne Flügel, an den Boden zum Kriechen gefesselt. Die früheste bekannte Kunst des homo sapiens ist auch eine Chimäre, der Löwenmann aus Elfenbein, nicht weit von hier gefunden, 40 tausend Jahre alt. Die heutigen Mischwesen sind Mischungen aus menschlichem Körper und Dingen, auch ungeheuer wie das Exoskelett und der Cyborg mit eingepflanzten Computerchips. Sobald der Körper das Bett verlässt, flieht er zu anderen Dingen, mit denen er sich verbindet und mühsam bewegt: mit dem Nachttisch oder den Kopf in einem Blecheimer auf Rädern versenkt. Auch Gregors Schwester Gretel, die ihn im Text anfangs noch versorgt, verschmilzt mit einem Ding, einem kleinen Akkordeon. In unbekümmerter, mädchenhafter Bewegung wird der sich dehnende Balg des Akkordeons zu ihrer Atmung, wie ein Zeichen der Empathie mit ihrem an Dinge gefesselten Bruder. Gegen Ende versucht Gregors Körper kurz, die ihn haltenden, stützenden, bewegenden Dinge zu verlassen und entpuppt sich als haltlos, ohne jeden aufrechten Gang, grotesk verzerrt in seiner Bemühung und wird bald wieder in einer vollkommen überraschenden Aktion von seinem Bett „verschluckt“, das nun an seiner statt aufrecht steht. Mit Grausen erinnert man sich daran, dass auch ein Mensch mit solch einem Körper im Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten ermordet worden wäre.
Christoph Schagerl in der Rolle seines Lebens: der groteske Körper. Es braucht keine Schminke, keine Maske. Das ungeheure Ungeheuer, das Ungeziefer, lebt, windet sich verzweifelt in seinem Panzer aus Dingen, ausgeschlossen von der Welt der ähnlichen, menschlichen. Die Bewegung des Körpers mit und in den Dingen ist un-menschlich. Die Gegenstände werden Teile des Körpers, das Ungeziefer ist das Verwachsen des Körpers mit den Dingen. Christoph Schagerl schafft es, auch den letzten Teil einer natürlichen Anmut in der Bewegung zu zerstören, er ist Gregor in seiner stummen Not.
Im sonst sprachlosen Tanztheater geht es hier auch also um Text – und um Musik. Pauline und Aleksi sind versierte Musiker, sie begeistern ihr Publikum auf den Musikbühnen. Hier aber erscheinen sie improvisierend im szenisch-dramatischen Zusammenhang. Das Wort „erscheinen“ passt besonders, denn mitten im grotesken Drama aus Körpern, Dingen und Bewegung stehen sie gewissermaßen unsichtbar, ganz in weiß gekleidet wie Engel (Erinnerung an Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“). Bewegungsarm, fast körperlos geben sie der Sprachlosigkeit eine Stimme, aber ohne Sprache. Paulines Gesang ist wie Gregors Seelenausdruck: von der stillen Ohnmacht, dem Schmerz, der Qual und Verzweiflung bis zum zornigen Aufbegehren – vergeblich. Ihre Stimme: weit gespannt vom eingesponnenen Summen der Einsamkeit bis zum singenden Schrei der verwundeten Seele. Zwischen der Unerbittlichkeit des Textes und dem entmenschlichten Körper finden In ihrer Stimme die Gefühle Ausdruck und das Mitgefühl mit der Kreatur. Aleksi ist der Soundtrack dieses surrealen Filmes, unterstützt Paulines Seelenstimme filigran an der verstärkten Gitarre und treibt aber auch voran, benennt rhythmisch die Brutalität des Geschehens, die sich hinter dem Grotesken und der Verzweiflung, hinter Kafkas sachlicher Sprache verbirgt. „Es muss weg“, so kehrt am Ende die Schwester, nun dem Familienmantra folgend, das Ungeziefer mit dem ganzen Müll unter das Bett, unter Aleksis harten Rhythmen, mit zunehmend verzerrten Klängen: alles ist verzerrt, abstrus, grotesk, unmenschlich.
Gegen Ende zwei besonders eindringliche Bilder aus der Vermischung von Körper, Dingen, Text und Musik: Paulines steht in dem projizierten gnadenlosen Kafka-Text, im Schwarz verschwindet ihr Körper und nur der rote Mund singt aus einem der Buchstaben. Und Gregor windet sich im Rahmen seines aufrecht stehenden Bettes, auf das der Text projiziert ist. Sein nur noch schemenhaft sichtbarer Körper empfängt den Text, und seine verzweifelten Bewegungen verzerren ihn. Großartig.